Aus dem aktuellen Heft 99


„Diese Maschine des permanenten Weiter-an-sich-Arbeitens“

 

Interview mit Jürgen Martschukat, Autor von "Das Zeitalter der Fitness"

 

Der tödliche Pass: Herr Martschukat, Sie haben in Ihrem Buch „Das Zeitalter der Fitness“ untersucht, „wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde“ – was hat Sie als Inhaber der Professur für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt auf DIESES Thema gebracht?

Jürgen Martschukat: Zum ersten sind der Begriff der Leistungsgesellschaft und die Vereinigten Staaten nicht so weit voneinander entfernt, zum zweiten lautet eine der Grundthesen, die ich in meinem Buch entwickle, dass Fitness ganz eng mit dem Begriff der Freiheit korrespondiert, und da sind die USA ja das Land, das sich die Freiheit am größten auf ihre Fahnen schreiben. Zudem interessiere ich mich seit zwanzig Jahren für die Geschichte von Körpern, vor allem auch für das Politische von Körpern, in diesem Kontext bin ich mehr und mehr in die Sportgeschichte eingestiegen und habe kürzlich auch an einem Projekt zum Thema Fitness mitgearbeitet.

DtP: Persönliche Frage – sind Sie Mitglied in einem Fitnessstudio?

JM: Nein, aber meine Frau würde sagen: ich bin obsessiver Radfahrer! Sport begleitet mich seit meinem sechsten Lebensjahr, ich habe früher Handball gespielt und bin dann irgendwann bei diesen Ausdauersportarten gelandet.

DtP: Fitness boomt – das wird auch durch eine Pandemie nicht gestoppt werden. Was macht Fitness für über 13 Millionen Deutsche, die 2019 in einem Fitnessstudio angemeldet waren, so attraktiv?

JM: Was die Pandemie betrifft, so habe ich kürzlich gelesen, dass der Absatz von Hometrainern unglaublich in die Höhe geschnellt ist – klar, das Fitnessstudio ist geschlossen, man weiß nicht, wann es wieder öffnet, also wird das Ganze kurzerhand ins heimische Wohnzimmer verlagert. Generell denke ich, dass vor allem die Anerkennung, die man dafür bekommt, Fitness so attraktiv macht – Anerkennung auch verstanden in einem politischen Sinn, das heißt an der Gesellschaft partizipieren, auf gesellschaftliche Ressourcen zugreifen zu dürfen. Seit den 80er Jahren ist die Rede davon, dass Menschen generell erfolgreicher sind, weil sie körperlich leistungsfähiger sind, zum Beispiel erfolgreicher im Job, was immer auch mit der Diskriminierung derjenigen verbunden ist, die augenscheinlich nicht so fit daherkommen. Attraktiv macht Fitness sicher auch das Gefühl, etwas für sich und die eigene Gesundheit zu tun, und man fühlt sich ja auch tatsächlich gut, wenn man noch eine Runde gelaufen ist. Trotzdem ist das ein historisches Phänomen, vor sechzig Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, nach Feierabend noch eine Runde zu drehen. In den 60er Jahren hat es Fitness in der heutigen Form nicht gegeben – es gab Ansätze dazu an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, aber in der Nachkriegsgesellschaft war das wirklich ein absurder Gedanke. Ich kann mich noch an meinen Vater erinnern, für den Sport immer sehr wichtig gewesen ist, aber der hat lange nicht einmal ein Fahrrad besessen.

DtP: Fitness – so determinieren Sie in Ihrem Buch – stehe für Produktivität, Potenz und Kampfbereitschaft, drei Komponenten im gegenwärtigen Wirtschaftssystem, die bedeutsam sind für die Anerkennung eines Individuums als produktives Gesellschaftsmitglied und als Subjekt. Meinen Sie Fitness im Allgemeinen, also auch geistige oder soziale Fitness, oder Fitness konkret auf den Körper bezogen?

JM: Die WHO hat unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Gesundheit definiert als geistige, soziale und körperliche Gesundheit – das heißt, alle diese Faktoren sind wichtig. Ich habe mich in meinem Buch auf das Körperliche fokussiert, weil mein Interesse dem Körper und seiner politischen Bedeutung gilt. Aber das eine ist immer an das andere gekoppelt – mit physischer Fitness wird auch eine größere mentale Wendigkeit assoziiert, möglicherweise auch eine größere soziale Kompetenz. Der dicke, weiche Körper wird oft verbunden mit Vereinsamung, weniger Anerkennung, geringerer Sozialität.

DtP: Fitnesstraining heißt ja, sich jenseits der körperlichen Arbeitsanstrengung anderen oder weiteren Körperertüchtigungsprogrammen zu unterziehen – woher stammt diese Vorstellung? Steckt da die mediale Verbreitung, wenn nicht gar Überhöhung der Leistungssportler*innen wie z.B. Profi-Fußballer dahinter? In Ihrem Buch verweisen Sie des Öfteren auf den US-amerikanischen Fitnessmarkt, der nicht nur, aber auch von solchen „Sportgrößen“ befeuert wird…

JM: Wenn man sich die Profi-Fußballer heutzutage anschaut, dann haben die im Vergleich zu Spielern aus den 70er oder auch noch 90er Jahren eine ganz andere Körperlichkeit. Dass sich jemand wie Joshua Kimmich nach einem Spiel erstmal eine Zigarette anzündet oder ein Bier trinkt, ist unvorstellbar, oder? Die heutige Generation von Profi-Spielern agiert extrem professionell, nicht nur, was Körper oder Ernährung angeht, sondern bis in die Freizeit hinein – das wird von Medien sicher ganz gezielt verbreitet. Ich denke aber, dass die Sportstars gar nicht so sehr die vorrangige Referenz sind, sondern dass es die vielen austrainierten Körper sind, die mir täglich in allen möglichen Medienformaten begegnen. Die sozialen Medien etwa lieben Bilder von trainierten Körpern! Was da suggeriert wird, ist, dass es Alltagskörper sind, die mir da entgegenkommen, und dadurch in viel stärkerem Maße einen Bezugspunkt, eine Orientierungsgröße für meine eigene Körperlichkeit setzen. Das sind Ideale, an denen Normalbürgerin und Normalbürger auch immer wieder scheitern – und so wieder und wieder in diese Maschine des permanenten Weiter-an-sich-Arbeitens hineingeworfen werden.

DtP: Was ist mit denjenigen, die körperliche Fitness und ein entsprechendes Training vermeiden – ich denke da etwa an behäbige, bierbäuchige Fußballfans: Ist für die der Sportler als Idealentwurf und Stellvertreter zu sehen, nach dem Motto: wenn ich schon selbst nicht fit bin oder nur bedingt fit sein kann, dann kann ich wenigstens konsum-fit sein und meine Stellvertreter und deren Sport konsumieren?

JM: Zum einen muss man sehen: Historisch betrachtet ist das kein neues Phänomen – auf der Fitness-Welle um die Jahrhundertwende um 1900 gab es Kritiker, die bemängelten, dass die Leute körperliches Training einerseits bejahen und gutheißen, andererseits sich aber nicht daran halten, sich vielleicht noch Trainingsgeräte kaufen, aber letztlich dann zu faul sind, das umzusetzen. Zum anderen gibt es beim Fußballsport ganz viele Projektionen und Referenzpunkte, ich gucke ja nicht oder nicht nur Fußballspiele, weil ich diese durchtrainierten Körper als Orientierung sehen will, sondern da spielen vielerlei Identifikationsebenen eine Rolle, zum Beispiel mit meinem Club oder der Fangemeinde, und diese Identifikationen kann ich leben unabhängig von meiner Körperform.

DtP: Michel Foucault hat eine Kultur und Gesellschaft, die ihre Stärke und ihren Erfolg aus der Leistungsfähigkeit der Individuen und der Bevölkerung insgesamt schöpft, als „biopolitisch“ bezeichnet. Kurz gefasst: Der Konsumkapitalismus als darunterliegendes und steuerndes System verlagert die Verantwortlichkeit für das individuelle Fit-Sein, also für Wohlergehen und In-die-Gesellschaft-Passen, in die Selbst-Maximierung des Humankapitals – aber nicht befördert durch das System, sondern durch das Individuum selbst. Menschen gelten, wie Sie schreiben, als Marktakteure in Wettbewerbssituationen – in jeder Lebenslage. Kann das der Einzelne überhaupt erreichen und aushalten? Anders gefragt: Ist Fitness eine Form der Selbstausbeutung?

JM: Auf jeden Fall – das erleben wir ja immer, und das wissen auch Unternehmen. Die Übertragung von Verantwortung beispielsweise führt dazu, dass die Menschen dazu neigen, sich im Arbeitsprozess selbst auszubeuten. Vor der Selbstausbeutung liegt die Selbststeuerung – ein zentraler Faktor im flexiblen Kapitalismus. Diese Selbststeuerung ist ganz zentral in spätmodernen Gesellschaften, prototypisch seien da Ronald Reagan oder Maggie Thatcher genannt, die propagiert haben, dass die Regierung nicht die Lösung ist, sondern das Problem: am besten sei es, wenn die Menschen sich selber regierten. Die Autonomie der Einzelnen, die Selbstverantwortung und das Recht auf Selbstverwirklichung implizieren immer auch eine Pflicht, für sich selber, für das, was man aus sich und seinem Leben macht, die Verantwortung zu übernehmen. Das kann natürlich in einem System, das mir zumindest suggeriert, dass ich unbegrenzte Möglichkeiten habe – was den USA noch viel stärker eingeschrieben ist als hierzulande –, zu einer extremen Belastung werden, die zu Selbstausbeutung führen kann. Die Vorstellung des permanenten Arbeitens-an-Sich, an der eigenen Körperlichkeit und Leistungsfähigkeit, was dann zu mehr Chancen und Erfolg führen soll, ist gewissermaßen die Verkörperung dieses Prinzips.

DtP: Wird sich Ihrer Ansicht nach dieser Trend zur steten Optimierung durch eine sich abzeichnende Digitalokratie noch verstärken? Ich denke an Entwicklungen wie Self-Tracking oder Bio-Hacking, oder Firmen, die bestimmte Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stellen und deren Nutzung auch von den Angestellten verlangen…

JM: Das wird sich sicher verstärken. Ich spreche gerade mit Ihnen über mein iPhone, und seit einigen Jahren haben diese iPhones eine Health-App vorinstalliert; die formuliert auch Anreize, etwa wie viele Schritte ich täglich gehen soll, sie passt das Maß dieser Anreize auch auf mein individuelles Bewegungsprofil an. Das ist eine intelligente, individuelle Art der Steuerung, und damit meine ich nicht, dass ich die gut finde, sondern eher, dass das eine Form der Macht ist, die besonders perfide und trickreich ist, weil sie genau an den Punkten ansetzt, wo sie weiß, dass sie mich noch mobilisieren kann. Dann gibt es die vielen Online-Communities zu Self-Tracking, da finde ich Gleichgesinnte, die aber auch Konkurrentinnen oder Konkurrenten für mich sind – trickreich hier, dass diese Plattformen ständig für uns verfügbar sind und so uns noch mehr steuern können. Dass dann auch Versicherungsunternehmen darauf anspringen und darüber ihre Gesundheits-Förderungsprogramme platzieren, ist innerhalb dieses Systems nur die logische Konsequenz.

DtP: Könnte Fitness zu einem harten Job-Auswahlkriterium werden?

JM: Das würde ja bedeuten, dass die Daten verfügbar sind – ein Orwellsches Szenario in individualisierter Form… Vorstellen kann ich mir das, auch wenn in Deutschland der Datenschutz noch relativ hoch gehalten wird. Mein Arbeitgeber kann vielleicht, wenn ich meine Gesundheitsdaten share, diese sich beschaffen, teilweise tut er das indirekt ja auch schon mit dem, was in den sozialen Medien gepostet ist, und kann dann sehen, welche Körperlichkeit eine Person mitbringt. Es bleibt auch abzuwarten, welche Daten in der geplanten elektronischen Patientenakte gespeichert werden und wer da Zugriff darauf hat. In moderaterer Form, dass man von Arbeitgeberseite auf eine äußerlich wahrnehmbare Körperlichkeit schaut, welche Fitness und Leistungsfähigkeit suggeriert, ist das schon sehr lange der Fall. In einem größeren Projekt in den letzten Jahren konnte ich mit Sozialmedizinern zusammenarbeiten, die in der Stigma-Forschung aktiv sind und die Benachteiligung dicker Menschen untersuchen: die beginnt schon im Bildungssystem und geht weiter auf dem Arbeitsmarkt. Ergebnis: Die Benachteiligung ist immens.

DtP: Wo könnte man ansetzen, um den Selbst-Optimierungswahn aufzuhalten, wenn man ihn denn aufhalten wollte? Etwa in den Schulen, wo im Schulsport absurderweise für eine gewisse physische Konstitution und eine bestimmte definierte Leistung, etwa 100 Meter zu laufen, in einem bestimmten Alter eine Note vergeben wird?

JM: In den Schulen ist Leistung, ist der Leistungsbegriff das Grundproblem. Schule ist aufs Engste in die Leistungsgesellschaft eingebunden und ist darin ein zentrales Instrument. Die Historikerin Nina Verheyen zeigt das sehr schön in ihrem Buch „Die Erfindung der Leistung“: eine Leistungsgesellschaft behauptet und suggeriert Gleichheit, Fairness und Gleichbehandlung, diese Vorstellung berücksichtigt aber nicht, ja verschleiert sogar, dass wir alle unterschiedliche Ausgangspunkte und Voraussetzungen haben. Also ja, da wäre ein Ansatzpunkt.

DtP: Entspricht das Sich-selbst-verbessern-Wollen aber nicht auch dem spielerischen Kräftemessen von Kindern? Von Kindern, die stets Erste sein wollen, die schneller, höher, weiter laufen, klettern, springen wollen? Ist das vielleicht sogar eine anthropologische Konstante?

JM: Diese Argumentation gründet ja stark in der Vorstellung naturnotwendigen Wettbewerbs. Das geht zurück auf Darwins „survival of the fittest“, womit aber nicht der Wettbewerb erfunden wurde, sondern was nur erklärt, dass die Spezies, die am besten überlebt, das durch Zufall schafft und nicht in Folge von Selbst-Optimierung und Arbeit an der körperlichen Fitness. Bei Darwin ist die Frage: welches Lebewesen passt am besten in eine spezifische Umwelt? Fitness heißt bei ihm to fit into something, bedeutet also nicht dieses permanente Arbeiten an sich. In dem kürzlich erschienenen Buch Exercised des Anthropologen Daniel Lieberman zu Thema Fitness las ich, dass das Training um des Trainings willen, also das Seinen-Körper-fit-Halten, um im Lebenswettbewerb bestehen zu können, nicht-westlichen, also nicht-kapitalistischen, nicht-liberal strukturierten Kulturen eher fremd ist. Lieberman weist dieses Argument der anthropologischen Konstante klar zurück. Er konstatiert, dass es zwar dort durchaus athletische Wettbewerbe gibt, aber die Vorstellung, sich dafür einem rigiden Trainingsplan zu unterwerfen, sei den Menschen fremd.

DtP: Nun ist es bisher eine biologische Tatsache gewesen, dass der Körper altert. Die Biotechnologische Forschung versucht diesen Prozess aufzuhalten, ja sogar aufzuheben, und zielt darauf, den Tod abzuschaffen. Ist Fitness und Selbstoptimierung letztlich nicht auch nur eine Reaktion auf die Angst vor dem Tod?

JM: Auf jeden Fall ist Älterwerden ein ganz wichtiges Phänomen in diesem Kontext! Das fängt bei Männern an, die sich in die Midlife-Crisis hineinbewegen – ich habe da in den letzten Jahren zahlreiche Sportzeitschriften aus den 70er Jahren gelesen, am liebsten waren mir da die Leserbriefe, in denen viele Männer ab dem Alter von 40 schreiben, dass sie plötzlich Alterungssymptome verspüren, da sind die Fettpolster, die geringere Beweglichkeit, Kurzatmigkeit usw. Den Kampf gegen die Alterung aufzunehmen, wird da fast schon als religiös anmutende Konversionserfahrung beschrieben! Erfahrbar wird das konkret in bestimmten Schlüsselmomenten, man geht zum Beispiel zum Kühlschrank, um sich noch ein Bier zu holen, merkt, dass man plötzlich außer Atem ist und beschließt bei sich: Jetzt muss ich mein ganzes Leben ändern. Die Auseinandersetzung mit dem Alter ist auch zu sehen bei den sogenannten Neuen Alten, die es seit einigen Jahrzehnten gibt, die gerne ins Theater gehen, die gerne Sex haben, auch wenn sie schon weit über 70 sind, die gehen eben auch gerne ins Fitnessstudio, um sich in Form zu halten. Ob dahinter konkret die Angst vor dem Sterben steht, vermag ich nicht zu sagen, aber auf jeden Fall das Bestreben, das Alter aufhalten zu können. Das ist extrem wichtig in dieser ganzen Bewegung.

DtP: Aufhalten kann ich den Alterungsprozess ja auch mit gewissen Mittelchen… Ist eine größere Leistungssteigerung, eine größere und ausdauernde Fitness, auch im Profisport wie etwa im Fußball, ohne Doping überhaupt möglich? In den Fitnessstudios werden ja einschlägige Substanzen mittlerweile als Teil des Trainingsprogramms verkauft, zudem ist Doping mittlerweile fester Bestandteil westlicher Konkurrenzgesellschaften – angefangen beim Proteinriegel vor dem Test in der Schule, über diverse Mittelchen im Beruf, bis hin zu massiven Eingriffen in den Körperhaushalt im Profi-Sport. Mit anderen Worten: Warum wird Doping überhaupt noch als negativ verfolgt und geahndet?

JM: Interessant ist ja, dass es nur im Wettbewerbssport auf dem Top-Level verfolgt und geahndet wird, manchmal auf eine sehr lasche Art und Weise. Auf der Alltagsebene, im Breitensport beispielsweise, sind verschiedene Arten des Dopings wie Atemspray oder Testosteronpräparate allerdings auch weit verbreitet. Da kümmert sich niemand darum. Noch eine Stufe weiter gesehen, ist der Tablettenkonsum sehr weit verbreitet, um so im Alltag leistungsfähiger zu sein, ein bisschen besser lernen zu können, ein bisschen mehr arbeiten zu können, auch ein bisschen besser schlafen zu können. Dieser Konsum ist in allen Bereichen seit den 60er Jahren immens nach oben gegangen und ist zum Alltagsdoping geworden. Körperlichen Schwachstellen, und da sind wir wieder beim Thema von eben, die schlicht Alterserscheinungen sind, die in ein bestimmtes Krankheitsbild eingefügt werden, versucht man, durch die Einnahme bestimmter Medikamente entgegenzuwirken. Es werden also Krankheitsbilder erschaffen, um so die Notwendigkeit zu erzeugen, über bestimmte Medikamente gegensteuern zu können.

DtP: Der Philosoph Byung-Chul Han sagt in seinem Text „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010), die „Leistungsgesellschaft als Aktivgesellschaft entwickelt sich langsam zu einer Dopinggesellschaft. […] Das Doping macht gleichsam eine Leistung ohne Leistung möglich.“ und er folgert: „Das Verbot [von Doping; se] allein verhindert jedoch jene Entwicklung nicht, dass nun nicht nur der Körper, sondern auch der Mensch als Ganzes zu einer Leistungsmaschine wird, die störungsfrei zu funktionieren und ihre Leistung zu maximieren hat. Das Doping ist nur eine Folge dieser Entwicklung, in der die Lebendigkeit selbst, die ein sehr komplexes Phänomen darstellt, auf die Vitalfunktion und Vitalleistung reduziert wird. Als ihre Kehrseite bringt die Leistungs- und Aktivgesellschaft eine exzessive Müdigkeit und Erschöpfung hervor. […] Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele.“ – Sehen Sie das auch als Gefahr? Macht das Fitness-Diktat nicht nur nicht gesund, sondern krank?

JM: Han hat die Fähigkeit, Sachen von der Formulierung her gut auf den Punkt zu bringen… „Infarkt der Seele“ wäre nicht die Formulierung, die ich wählen würde, aber ich stimme ihm zu, wenn er allgemein Erschöpfung und Burn-Out als große Themen im Kontext der Fitness-Gesellschaft verortet, die auch immer größere Gesellschaftskreise betreffen. Darein fügt sich die Rede von der Resilienz, die gerade überall präsent ist und die von uns allen gefordert wird, welche impliziert, dass nicht das System geändert wird, das so belastend ist, nicht der Druck vom Kessel abgelassen wird, sondern das Material – da stammt der Begriff ja her –, also das Material Körper, das Material Mensch soll widerstandsfähiger und belastbarer werden. Im Zeitalter der Fitness, in dem immer mehr Selbstoptimierung und Arbeit an uns und Einbringen in die Leistungsgesellschaft gefordert wird, greift eben dieses Thema immer mehr um sich. Da gebe ich Han unbedingt Recht.

DtP: Letzte Frage: Gibt es für Sie ein Recht auf Faulheit, oder zumindest auf Trägheit?

JM: Wenn Sie von einem RECHT auf Faulheit sprechen, muss ich zunächst sagen, dass Fitness und Leistung keine Frage der Rechtsordnung sind. Es gibt kein Gesetz, das uns zu Körpertraining und Leistung verpflichtet, es gibt auch kein Gesetz, mit dem man zu tun bekäme, wenn man sich gegen diese Ordnung der Fitness wendet. Gäbe es ein Gesetz, so wie es beispielsweise Juli Zeh in ihrem Roman Corpus Delicti entwirft, dann wäre es leichter, Widerstand gegen dieses Gesetz auszuüben, aber es gibt eben niemanden, der uns dazu zwingt, ins Fitnessstudio zu gehen. Es hängt an der Frage der Anerkennung, die wir damit erhalten, der Bonifikation für Leistung, dafür, dass wir leistungswillig und leistungsfähig sind, und vielleicht ist es vor diesem Hintergrund noch viel schwieriger, sich diesem Druck, permanent an sich zu arbeiten, zu entziehen. Umso wichtiger ist es, dass man es immer wieder tut. Und wenn es tatsächlich eine widerständige Praxis sein soll, also Faulheit als Widerstand, dann darf ich mich nicht eine halbe Stunde aufs Sofa legen, um mich zu erholen, damit ich wieder fitter und leistungsfähiger bin, denn damit füge ich mich ja wieder ins System ein. Alle, die Yoga machen, mögen mir das jetzt nachsehen, aber das wäre dann das Yoga-Prinzip. Nein, wenn dann muss ich faul sein, weil ich gerade Bock drauf habe, faul zu sein, auf dem Sofa zu liegen, Fußball zu gucken, ohne mich an diesen fitten Körpern zu orientieren, und dazu ein Bier zu trinken und Pizza zu essen. Ich halte es für ganz wichtig, sich Raum für Genuss und Faulheit zu verschaffen, ohne sich dabei einzudenken in dieses System der Leistung.

DtP: Herr Martschukat, wir danken sehr herzlich für das Gespräch.

 

Jürgen Martschukat: Das Zeitalter der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde.“ Frankfurt/Main, 2019.


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