Einmal saßen Kay Sokolowsky und ich im Wohnzimmer des gebührend hoch über der katholischen Mainzer Innenstadt gelegenen Appartements von Erika und Ror Wolf. Das taten wir nicht selten. Wir besuchten Ror recht regelmäßig, seit wir ihn 2001 persönlich kennengelernt hatten.
Kay hatte ich damals ein wenig übertölpeln müssen.
Er war bei mir zu Besuch in Frankfurt, und während der Pflichtbiere am ersten Abend sagte ich zu ihm, wir führen morgen nach Mainz.
„Wieso nach Mainz?“ Kay ahnte, daß ich ein Treffen mit jenem Dichter arrangiert hatte, den er von den wenigen Schriftstellern in diesem grauenhaften Land am deutlichsten verehrt. Ich merkte, daß er sich sträubte. Ich sagte: „Keine Widerrede.“ Obwohl auch mir, offengestanden, nicht besonders wohl zumute war. Etwas bang war auch mir. Ich war Ror Wolf vorher ebensowenig begegnet.
Ror war dann exakt jener „gentile Herr“, als den ihn Eckhard Henscheid 1987 in einem Essay im Merkur charakterisiert hatte – ausgesuchte Manieren, Takt im Umgang und im Ausdruck (ohne je preziös zu wirken), eine feste, tiefe, angenehme Stimme. Ich meine, er habe uns bereits am Ende dieses ersten Abends bei der Verabschiedung freundschaftlich umarmt.
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Natürlich redeten und schwätzten und laberten wir immer auch über Fußball, ab und an derart halt- und ziel- und geistlos, wie Anhänger dieses langsam, aber sehr sicher hoffnungslos überschätzten, ja immer öfter wenn nicht hassenswerten, so doch in seiner voraussehbaren Plastepophaftigkeit und Geldgrunzdummheit endlos ennuyierenden Sportspiels halt über diesen Unfug parlieren, erinnerungsselig und zeitdiagnostisch, hagiographisierend und verdammend, schwelgend und schimpfend.
Über die Eintracht informierte sich Ror nebenbei weiterhin ein wenig, vorwiegend übers Radio, wie er behauptete. Hätte der Mann, der den Fußball zumal durch seine unvergleichlichen Gedichte und seine Hörspielcollagen, in denen die planen Sprachwirklichkeiten sich ins Transzendente hineinwölben, zu etwas ungemein versteckt Größerem gemacht hat, als er in seinem krankhaften Wiederholungszwang und in seiner Glorifizierung des Konkurrenzkampfes, der Stärke und des Triumphes ist, etwas anderes sagen sollen? Selbst Freunden gegenüber? „Kay, Jürgen, wißt ihr was? Der Fußball, er lecke mich am Arsch!“?
1982 hatte Ror Wolf seine „Abschließenden Worte zum Fußball“ bekanntlich mit zwei Sätzen abgerundet: „Der Fall ist beendet. Das ist mein Abschied vom Fußball.“ (Man stelle sich vor, die Herren des heutigen Fußballuniversums setzten sich am Genfersee in einem Restaurant zusammen und schrieben auf eine Serviette, welche am nächsten Morgen an die „Medien“ weitergereicht würde: „Der Fall ist beendet. Das ist der Abschied der Welt vom Fußball.“ Was dann alles möglich wäre.)
Trotzdem hatten wir verabredet, mal ein WM- oder ein EM-Spiel zusammen anzuschauen. Dazu gekommen ist es nicht.
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Ror Wolf hat der alte Fußball interessiert, angeregt, berührt, jener, den er atmosphärisch zum erstenmal erspürt hatte, als er 1953 aus der DDR ausgereist und alsbald zufällig in Nürnberg am Städtischen Stadion vorbeigekommen war, und den er dann ab Mitte der sechziger Jahre konservierte und nobilitierte, indem er aus all dem semantischen und sprechaktrituellen Schrott in katastrophaler Fron, „festgepappt unter Kopfhörern“ (Ror), Mosaike der Weltverwirrung, der (durchaus erotischen) Erregung, der komischen Konfusion, der Trivialitätstumulte und der schönen Fügung komponierte, sich auch filmischer Verfahren bedienend und die knackenden und reibenden und knirschenden und kantigen Verben liebend.
Zu den kanonisierten Mirakeln der Radiokunst Schwierigkeiten beim Umschalten, Merkwürdige Entscheidungen, Der Ball ist rund und Cordoba, Juni 13 Uhr 45 möchte ich hier nichts anmerken, ich habe das wiederholt und ausführlich getan. Noch inniger, ja zärtlich zugeneigt bin ich den Stimmenbildern Die alten Zeiten sind vorbei, Expertengespräche und Heinz, wie ist deine Ansicht?
Wer den Fußball geliebt hat, weiß, warum.
(In dem Moment, da ich dies tippe, läuft „Sometimes I Feel Like Screaming“ von Deep Purple. Das ist kein Schmu.)
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Das Wort „Ehre“ ist genauso mies wie das Wort „Stolz“. Beide Wörter setzen sich eigenmächtig an Leerstellen fest. Sie bedeuten nichts und zuviel zugleich.
Dennoch fühle ich mich heute geehrt, daß Ror in den nuller Jahren für eines meiner Fußballbücher ein Grußwort geschrieben hat. Und stolz bin ich, daß mir Ror 2005 die Herausgabe der Gesammelten Fußballhörspiele anvertraute. Und daß wir zusammen das Tableau Das langsame Erschlaffen der Kräfte (mit den Sprechern Manni Breuckmann, Christian Brückner, Günther Koch und Rudi Michel), das 2006 im Bayerischen Rundfunk urgesendet wurde, gebaut haben: das verstehe ich heute überhaupt nicht mehr.
Ich erinnere mich indes, wie glücklich ich war, wenn ich während der Produktionspausen aus dem Regiekeller im Bayerischen Rundfunk hinauf ans Tageslicht stapfte und Ror am Handy von der phantastischen, akribischen, liebevollen Zusammenarbeit mit der Cutterin Regine Elbers und dem Tontechniker Hans Scheck berichtete. Und Ror sagte sinngemäß: „Jürgen, ich bin sehr froh, dich dort in München zu wissen.“
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Die Geschichte, wie sich Ror Wolf während eines Fußballspiels am Strand von Marathon, das diverse Gestalten aus der Betriebsausflugsgemeinschaft Bundesdeutscher Bölkbarden im Rahmen einer Einladung vermutlich des Goethe-Instituts meinten veranstalten zu müssen, als Torwart (nein, hier bitte einmalnicht an Camus oder Nabokov denken!) den Arm brach, wird Kay erzählen, denn Kay ist von Ror beauftragt worden, seine Biographie zu Papier zu bringen.
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„Rohrbachs Geschichte ist Rohrbachs Geschichte.“ (Ror Wolf: Das nächste Spiel ist immer das schwerste)
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Mit Thomas Rohrbach und Ror hätte ich ein Doppelinterview über ihre Zusammenarbeit führen sollen. Mit Jürgen Grabowski, den Ror immer „Grabsi“ nannte und den die Eintrachtler in Frankfurt „Grabi“ rufen, hätte ich ein Gespräch führen sollen. Zu beidem ist es nicht gekommen.
2006 vermittelte mir Ror einen Kontakt zu seinem Freund Grabsi. Ich kuratierte im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2006, die sich mir dann rasch in jeglicher Hinsicht als das somatisch eindringlich erfahrbare Ende des Fußballs darstellte, eine Veranstaltungsreihe im Schauspielhaus der Stadt Frankfurt.
Ror hatte mich bei Grabsi angekündigt, der Versicherungsvertreter in Wiesbaden ist. Ich schob das Telephonat vor mir her, eine Woche, zwei Wochen lang.
Nach dreieinhalb Kästen Bier schaffte ich es irgendwann endlich. Schüchtern lehnte Jürgen Grabowski ab, an einer Podiumsdiskussion im Schauspiel der Stadt Frankfurt teilzunehmen. Er möge das nicht, ich möge ihm verzeihen.
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Olaf Thon wollte für einen ebensolchen Auftritt 5.000 Euro Gage. Das nebenbei.
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Am Ende des Buches Das nächste Spiel ist immer das schwerste, nach den „Abschließenden Worten“, ist ein Photo abgedruckt. In einer Umkleidekabine links Jürgen Grabowski, einen weißen Lederball in Händen haltend, rechts Ror Wolf, der einen adidas-Stollenschuh prüft. Er guckt in ihn hinein, als begutachte er die Standfestigkeit der inneren Sohle.
Er begutachtet die Standfestigkeit der inneren Sohle.
Der Moment banal, die Antlitze frühantikisch tief.
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Ich verliere mich in meinen Erinnerungen.
Ror war nicht nur gentil. Ror konnte fluchen und poltern wie nur wer. Zu den Entstehungsumständen seines Films über den devianten Fußballspieler Thomas Rohrbach, Keep Out (1975, finanziert vom und gesendet im ZDF; dito das stelle man sich dieser Tage angesichts jener Boulevardlemuren auf dem Schirm vor, deren Namen zu nennen die Schicklichkeit verbietet), fand er keine freundlichen Worte.
Er hat mir ein paar Briefe, die er in dieser Zeit an die Kulturbürokraten und deren Lakaien richtete, kopiert. Ich zitiere nicht aus ihnen.
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Ror war ein Musiker. Als Musik der Worte, als Partitur der Verwicklungen und Umschläge ins Unwahrscheinliche war ihm die Welt vorstellbar und wirklich. Der Fußball birgt solche Bewegungs- und Überschreitungsmöglichkeiten in sich.
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Im Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung stand zu Recht: „Er war ein begnadeter Wortzauberer […], ein Virtuose des In-den-Text-Stolperns, des Nichtanfangens […], zugleich aber ein Genie des Beginnens“, ein Meister des Auslassens und der Wortschwalle und -räusche, des eleganten Zirkustricks.
Man müßte fortfahren. Was man zu Ror Wolf äußert, genügt nie.
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Ror erzählte wiederholt von einer Fahrt im Fanbus, von Frankfurt nach Schalke. Und von der Rückfahrt. Die besoffenen Kerle, von denen nicht wenige im Parkstadion ordentlich herumgeschlägert hatten, wußten nicht, wie die Eintracht gespielt hatte.
Kein Dichter vor ihm und keiner nach ihm hat eine derartige Abenteuerreise unternommen. War als Leibgardist Wilhelm Genazino mit dabei? Es könnte so gewesen sein.
Vom Bornheimer Hang, die Nagra, ein tonnenschweres Tonbandgerät, umgehängt, stieg Ror Wolf regelmäßig hinunter zum Trainingsgelände der Eintracht im Riederwald. Dort hielt er das Mikrophon zwischen die Kiebitze und richtete es auf den Platz, auf dem Erich Ribbeck unablässig Kommandos brüllte (man findet Ribbeck in den Hörspielen wieder).
Es gibt ein paar Photos. Mitte Oktober 2007 erkundeten Kay und ich das alte Terrain der alten Eintracht im Osten der Stadt, „auf den Spuren Ror Wolfs“, wie es im Feuilleton hieße. Der Himmel im Frankfurter Herbsthellblau. Unterm Horizont, oben auf dem Hang, die beiden Hochhäuser neben dem Panoramabad.
In einem der Klötze hatte Ror Anfang der Siebziger gelebt. Hier unten der Rasenplatz, die Tartanbahn, Fußball war noch nicht alles, die mit Graffiti übersäten weißen Kassenhäuschen, prächtige Laubbäume, mit Büschen bewachsene Wälle, ein einziges Werbeschild („Lotto hilft Hessen“). Auf der teilweise mit Bauzäunen gesperrten Tribüne sitzen Kay und ich, auf einer der Holzbänke, gucken ins Nichts, und das ist die Vergangenheit.
Gegenüber war damals, an der Straße Am Erlenbruch, die Gaststätte Sportzentrale, halb angebaut an die alte weitläufige Mietshaussiedlung, in der passagenweise Anna Seghers’ Das siebte Kreuz spielt.
Der Riederwald war eine KPD-Hochburg und ein Zentrum des Widerstands. Die Linke ist hier nach wie vor die bestimmende Kraft. Damals tranken die Spieler nach dem Training mit den Rentnern und anderen Spezialisten in der Sportzentrale, einem guten Spießerlokal, Bier.
In den zehner Jahren fiel der Laden an einen Chinesen.
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Ins Stadion traute sich Ror schon länger nicht mehr. So gingen wir am 11. Dezember 2004 ohne ihn zum Spiel Mainz gegen den 1. FC Nürnberg. Markus Schroth erzielte in der 10. Minute das 1:0 für den Club, dabei blieb es.
Hernach trafen wir uns seltsamerweise im Hof Ehrenfels am Dom. Mit am Tisch: Günther Koch. Ein Photo beweist, daß diese zwei größten Künstler, die sich jemals mit dem Fußball befaßt haben, seither einander persönlich bekannt waren, und Koch visitierte Wolf in der Folge, wann immer er eine Partie in Mainz übertrug.
Der Fußball hatte es gar nicht verdient.
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Einmal saßen Kay Sokolowsky und ich im Wohnzimmer des gebührend hoch über der katholischen Mainzer Innenstadt gelegenen Appartements von Erika und Ror Wolf. Ror und Kay unterhielten sich über Jazz. Ror liebte den alten Jazz, der einst aus den südlichen Sümpfen Nordamerikas herausgekrochen war.
Ich hörte zu wie ein Kind, dem man ferne Welten ausmalt. Später beim Bier legte ich den beiden mit einer gewissen Dringlichkeit nahe, ein Gesprächsbuch über Jazz zu machen. Sie nickten. Dazu gekommen ist es nicht.
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Fußball ist ein Stoff. Musik ist der Ausdruck des Lebens selbst, was immer es ist.
„Ich habe andere Dinge zu tun, als mit Worten umzugehen“, sagte Ror Wolf einmal.