Bernd Beyer trifft zum Hattrick

 

Von Claus Melchior

 

Wenn das Fußballfachorgan kicker sich heute sehr bewusst in die Tradition seines Gründers Walther Bensemann stellt, so ist dies zu großen Teilen ein Verdienst von Bernd-M. Beyer, der mit seinem Buch Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte den bedeutendsten deutschen Fußballpionier der Vergessenheit entriss. Und mit einer beispielhaften Biografie hat er Helmut Schön, einem großen Fußballspieler und -trainer, die hochverdiente Würdigung zuteil werden lassen. Bei seinem aktuellen Buch, 71/72: Die Saison der Träumer, handelt es sich um das hierzulande bisher noch nicht versuchte Unterfangen, die Geschichte einer einzelnen Bundesligasaison nachzuerzählen, und wieder ist ihm ein großer Wurf gelungen.

 

Warum ausgerechnet 1971/72, werden jüngere Leser*innen möglicherweise fragen. Ganz einfach, nur wenige Bundesligaspielzeiten dürften umfangreicheres Material für eine solche Darstellung bereitstellen, vor allem wenn man den politischen, sozialen und kulturellen Kontext einbezieht. Klar, der Meister am Ende der Saison hieß Bayern München, aber das war damals noch keineswegs so selbstverständlich wie heutzutage. Entschieden wurde die Meisterschaft erst am letzten Spieltag, als die Bayern im ersten Bundesligaspiel im neuen Olympiastadion den hartnäckigen Verfolger Schalke 04 mit 5:1 besiegten und dabei gleichzeitig den bis heute bestehenden Rekord von 101 Saisontoren aufstellten. Vierzig dieser 101 Tore gingen auf das Konto von Gerd Müller; auch dieser Rekord hat bis heute Bestand, selbst wenn Robert Lewandowski in der Saison 2020/21 auf dem besten Weg ist, sich an Müllers Stelle im Buch der Rekorde einzutragen. Die Schalker hielten sich für die entgangene Meisterschaft mit dem Sieg im DFB-Pokal schadlos, und einer der Absteiger war Borussia Dortmund, sechs Jahre zuvor noch stolzer Sieger im Europapokal der Pokalsieger.

 

Es war die Saison, in der die Nationalmannschaft mit einem 3:1 in Wembley und dem nachfolgenden Gewinn der Europameisterschaft spielerische Maßstäbe setzte, die bis heute als unerreicht gelten; es war die Saison, in der Borussia Mönchengladbach im Europapokal der Landesmeister mit 7:1 gegen Inter Mailand einen der größten Triumphe der Vereinsgeschichte feiern durfte, der dann wegen eines Büchsenwurfs am Grünen Tisch kassiert wurde, von dem bis heute nicht erwiesen ist, ob das Opfer Roberto Boninsegna überhaupt getroffen wurde und wenn ja, wie schwer.

 

Vor allem aber war es eine Saison im Schatten des Bundesligaskandals, den der Präsident der Offenbacher Kickers, Gregorio Canellas nach dem letzten Spieltag der Vorsaison enthüllt hatte. Die zögerlich begonnenen Ermittlungen des DFB-Sportgerichts nahmen zunehmend Fahrt auf; am Ende der Saison stand der Zwangsabstieg von Arminia Bielefeld; zahlreiche Spieler wurden im Zuge der über die Saison hinaus andauernden Verhandlungen gesperrt, darunter mehrere des FC Schalke 04, die nicht nur den Fehler begangen hatten, für 'n Appel und 'n Ei ein Bundesligaspiel gegen Arminia Bielefeld zu verschieben, sondern später vor Gericht auch noch einen Meineid zu leisten, was dann über die Sportgerichtsbarkeit hinaus justiziabel war; wobei die Ermittlungen gegen die Schalker erst in den Monaten nach Saisonende zu Strafen führten. Die Bedeutung des Bundesligaskandals liegt aber auch darin, dass er den Anstoß dazu bildete, in der Bundesrepublik Deutschland endlich echten und offenen Profifußball einzuführen, der den bisherigen Sumpf von illegalen Gehalts- und Ablösezahlungen vielleicht nicht trockenlegte, aber doch in erheblichem Maße entwässerte.

 

Aufregende Zeiten nicht nur im Fußball, sondern auch im richtigen Leben. Seit 1969 regierte in Bonn die sogenannte sozialliberale Koalition aus SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt, die mit ihrer neuen Ostpolitik außenpolitische Zeichen setzte, jedoch durch Übertritte einer Reihe von Abgeordneten ihre Mehrheit im Parlament verlor, was zum historischen, gescheiterten Konstruktiven Misstrauensvotum gegen die Brandt-Regierung im April 1972 führte. 1971 und 1972 waren zudem die Hochzeiten terroristischer Aktionen der Rote Armee Fraktion, meist eher Bader-Meinhof-Gruppe oder -Bande genannt, deren führende Köpfe alle im Frühsommer 1972 verhaftet wurden.

 

All dies wird von Beyer zu einer spannenden und mitreißenden Erzählung verwoben, wobei dem Autor sowohl sein Gespür für die treffende Anekdote zugutekommt als auch die feine Ironie, mit der er an vielen Stellen kommentierende Spitzen setzt. Emotional berührend wird die Erzählung aber vor allem durch den Kunstgriff, zwei Personen in ihren Mittelpunkt zu rücken oder zumindest als eine Art roter Faden dienen zu lassen: den Fußballspieler Reinhard Libuda und den Musiker Rio Reiser, die beiden im Untertitel angesprochenen Träumer.

 

Stan Libuda also, jener begnadete Fußballer von Schalke 04, der einzige bekanntlich, der selbst an Gott vorbeikam, so tief im heimischen Milieu verwurzelt, dass ihm sogar der zwischenzeitliche Wechsel ins nahe gelegene Dortmund wie ein Gang in die Fremde vorkam. Ohne Libuda wäre der Höhenflug der Schalker in jener Saison wohl undenkbar gewesen, zugleich aber hatte er sich im Netz des Skandals verfangen. Man darf annehmen, dass er aus Naivität und nicht aus Geldgier zu den Empfängern der Bielefelder Zahlungen gehörte; vermutlich wollte er auch nicht aus der Gruppe ausscheren, die ihm in vielerlei Hinsicht Heimat bot. Bei ihm ist es vielleicht tatsächlich erlaubt, ihn zugleich als Täter und Opfer zu betrachten. Es empfiehlt sich, mit dem Begriff Tragik im Zusammenhang mit Sport vorsichtig umzugehen (auch Niederlagen in der 5. Minute der Nachspielzeit entbehren jeden tragischen Elements), doch bei Libuda scheint es erlaubt, nicht nur wegen der Umstände seiner Beteiligung am Skandal, von einer tragischen Figur zu sprechen, gesegnet mit einem überragenden Talent und zugleich nicht wirklich geschaffen für diese Welt.

 

Und Rio Reiser, Sänger, Texter, Komponist bei Ton Steine Scherben, jener Band, die die linke politische Szene der frühen 1970er musikalisch begleitete. Die Geschichte der Gruppe liefert anschauliches Material zur politischen Realität der Bundesrepublik jener Jahre. Zu dieser Realität gehören auch das Bemühen, Politik und Kunst unter einen Hut zu bringen, und nicht zuletzt die beständigen Forderungen nach politischer Solidarität, wie sie einerseits das linke Selbstverständnis verlangte, die andererseits jedoch erhebliches Konfliktpotential barg, zumal wenn man mit dem zunehmend gewalttätigen Handeln der RAF nicht konform ging. Für Reiser kam dazu noch seine Homosexualität. Offen schwule Musiker mögen heute zahlreicher und akzeptierter sein als offen schwule Fußballer, aber damals wurde Schwulsein sicher auch in der linken Szene keineswegs als Selbstverständlichkeit hingenommen. Man darf Reiser heute wohl unter den wichtigsten Künstlern im Bereich der populären Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einordnen. Eine Karriere à la Udo Lindenberg war ihm nicht vergönnt, auch wenn er sie verdient hätte. Aber vermutlich war er für die Begleiterscheinungen des großen Erfolgs genauso wenig geschaffen wie Stan Libuda, als Träumer wohl ein Bruder im Geiste, auch wenn Rio sich nicht für Fußball interessierte und Stan eher kaum für die Scherben. Als politischer/kultureller Gegenpol zu Libuda ist Reiser für die Geschichte dieses Buches in jedem Fall die Idealbesetzung.

 

Bei älteren Semestern wie mir, die jene Jahre bewusst erlebt haben, wird das Buch zahlreiche Erinnerungen wecken, auch wenn ihm, und das ist gut so, jede elegische Nostalgie fremd ist. Jüngeren Leser*innen erlaubt es eine aufregende Reise in keineswegs nur unschuldige Zeiten. Und zugleich ist es viel mehr als das.

 

Bernd-M. Beyer: 71/72 – Die Saison der Träumer (Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2021, € 22,00).

 


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