Nicht immer waren genügend Knaben beisammen, um sich im epischen, allseits beliebten Strassenfussball der 1930er Jahre zu messen. Und manchmal hatten die Jungs wohl einfach auch keine Lust auf das meist mit Raufereien verbundene, harte Treiben, wollten auch an ihrer Technik feilen oder einfach mit dem besten Freund sein. Alleine den Ball zu jonglieren oder gegen eine Mauer zu treten wollte aber auf Dauer keinen Spaß machen. So griffen die Knaben auf eine Spielform zurück, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: „Köpfen“, „Köppen“ oder „Chöpf“, wie die Deutschschweizer sagen.
Was ist darunter zu verstehen?
Der im Jahre 1928 in Würzburg geborene und im dortigen Arbeiterquartier Grombühl aufgewachsene Helmut Försch, ein sehr engagierter Amateurhistoriker und Mitbegründer der Würzburger „Geschichtswerkstatt“, war damals ein echter „Straßenjunge“, wie er augenzwinkernd schreibt. Er und seine Freunde machten das gesamte Quartier unsicher, waren wagemutige Lausbuben. Dies, trotz oft intervenierender Polizei, auch in Zeiten der NS-Diktatur! In ruhigeren Momenten spielten die Knaben „Köpfen“:
„Fürs «Köpfen» war der Gehsteig der ideale Platz, denn er bot mit gut drei Metern Breite den nötigen Raum für unser Spielfeld von mindestens acht Meter Länge. Wenn da ein heißes Duell im Gange war, der Tennisball stramm geköpft hin und her flog und der Spieler bis zur Mittellinie hechtete, fiel es kaum einem Erwachsenen ein, störend durch das Spielfeld zu laufen. Der wich eben über die Straße aus. Die meisten Leute, die sich von unserem Spiel gestört fühlten – da wir richtige Meisterschaften ausrichteten, ging es nicht übertrieben leise zu, vor allem, wenn es um das Finale ging – waren uns bekannt und denen machten wir Platz. Angst hatten wir indessen nur vor einem, und das war Sattlermeister Ziegler“.
Einen weiteren süddeutschen Beleg für das einst so populäre „Köpfen“ fand ich für das Karlsruhe der späten 1940er Jahre. Der im Kriegsjahr 1940 geborene Dietmar Schmeiser, später ein erfolgreicher, promovierter Psychoanalytiker, schreibt in seinen farbigen Kindheitserinnerungen „Bunsentraße Nr. 3“ darüber:
„Auf einer Asphaltstraße lässt sich allerhand Kurzweiliges veranstalten. Bälle waren zwar rar, aber dennoch fand sich irgendein vergammelter Tennisball, mit dem man «köpfen» konnte. Ich fürchte, dieses Spiel kennt heute keiner mehr: Hier wurde der kleine Ball ausschließlich mit dem Kopf gegen ein gegnerisches Feld geschlagen. Der Ball durfte dort nur einmal den Boden berühren und musste dann vom Kontrahenten wider mit dem Kopf zurückgeschlagen werden. Es war so eine Art Tennis ohne Netz und Schläger. Die Felder waren zuvor mit Kreide aufgezeichnet worden. Die Zeiten waren kärglich, das förderte den Einfallsreichtum. Es wäre noch von zahllosen Hüpfspielen zu berichten. Das war aber in erster Linie Sache der Mädchen. Nur gelegentlich spielten wir mit ihnen.“
Die Mädchen waren damals leider noch weitgehend ausgeschlossen vom wilden“ Strassenfussball und dessen zahllosen Varianten. Sie pflegten dafür eigene Spiele, auch Ballspiele.
Der im Jahre 1930 im damals noch „roten“ Berlin-Kreuzberg geborene Günter Seidel schrieb in seinen Kindheitserinnerungen ebenfalls über das in seinen Berliner Kreisen „Köppen“ genannte Spiel:
„Die Tennisbälle, mit denen wir spielten, waren jedenfalls nie neu und weiß, sondern immer grau und staubig. Ein beliebtes Spiel mit dem Tennisball war «Köppen». Zwei Gegner bauten sich vor ihren gegenüberliegenden Toren auf, die sie mit dem Schulranzen, mit Steinen oder mit Kreidestrichen markiert hatten. Abwechselnd versuchte einer dem anderen den Ball ins Tor zu köpfen. Dazu wurde der Ball hoch geworfen und dann mit einem Kopfstoß in Richtung des anderen Tores befördert. Wenn es dem Gegner gelang, den Ball aus der Luft zurück zu köpfen, gab es Elfmeter. Jetzt durfte er den Ball von der Mitte zwischen den beiden Toren aus auf das gegnerische Tor «köppen».“
In der Schweiz kannte man ein sehr ähnliches Spiel, dort „Chöpf“ genannt. Davon berichtet detailliert der Friseurssohn Edwin Läser, der im Jahre 1928 im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl geboren wurde und dort aufwuchs. Seine Kindheitserinnerungen sind unter anderem Beleg für eine trotz Krisenzeiten und Armut reiche, wenn auch raue und wilde Jugendkultur zwischen „Amerikanisierung“ und „eigenständigen“ Praktiken.
„Der Ricci, der Mario und ich bildeten die Mannschaft Rümeli 1 in den erbitterten Kopfballturnieren Rümeli gegen Trüb, die Gleichaltrigen vom Schulzimmer nebenan. Dieser Sport, «Chöpf» genannt, wurde zu einer richtigen Sucht während der ganzen drei Schuljahre. Es hatte am Rand des Pausenplatzes zwei breite, sich gegenüberstehende Wäschestangen, etwa 8 m auseinander. Infolge zweier Stützen bildeten sie drei Abteile und waren somit ideale Goals für eine Dreiermannschaft. Jeder der drei Knaben bewachte somit ein eigenes Gehäuse. Die Spielregeln waren so einfach wie genial. Der Tennisball musste mit einem Kopfstoß angespielt werden. Natürlich mit dem Ziel, ein Goal zu erzielen, was aber mit dem Kopf beinahe nie gelang. Die Kunst bestand nun darin, die Regel «eimal Bode-Schuss» anzuwenden. Wenn der Ball nach dem Kopfstoß des Gegners einmal vom Boden aufgesprungen war, so durfte man ihn mit dem Fuß mit aller Wucht zurückschießen. Praktisch nur so erzielte man Tore. Man versuchte deshalb, den Ball so flach wie möglich zu köpfeln, damit er unbedingt schon den Boden berührte, aber kaum aufsprang, um dem Gegner keinen «Schuss» zu erlauben. Eine andere Taktik bestand darin, dem köpfelnden Gegner sofort entgegenzurennen, den Ball aus der Luft mit der flachen Hand abzuklatschen und eine «Bombe» loszulassen. Ich kann euch nur sagen, ein faszinierendes Spiel für uns Knaben!“
Entstanden war das Spiel aus dem Verbot der Schulpflege heraus, den Pausenhof für „richtigen“ Fussball zu nützen. Der Lehrer wollte erst begutachten, ob das Spiel niemanden gefährde. Die Knaben demonstrierten laue Schüsse, die sie „Schuebändel-Schüssli“ nannten. In der Realität pfiffen ihnen die Tennisbälle nur so um die Ohren. Wie in Würzburg organisierten auch die Zürich-Aussersihler Knaben einen eigentlichen Meisterschaftsbetrieb.
Phantasie konnte und kann fehlende wirtschaftliche Ressourcen ersetzen!
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Försch, Helmut. Mein Würzburg. Erinnerungen an die Jahre 1928-1950. Würzburg 2011.
Läser, Edwin. Läsi. Erinnerungen aus meiner Bubenzeit. Illustrationen von Walter Greub. Wallisellen 1993.
Schmeiser, Dietmar. Bunsenstrasse Nr. 3. Kindheit in den Ruinen einer Großstadt. Karlsruhe 2005.
Seidel, Günter. „Schmeiß mir ‚ne Stulle runta“. Eine Kindheit auf dem Hinterhof. Berlin 1930-1945. Norderstedt 2006.
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