BRÄNDLES BALLBERICHT


 

Stadtkind und „Landtschumpel“

 

Wie Bauernkinder ihre städtischen Kameraden das Fürchten lehrten

 

Von Fabian Brändle

 

Wendel war ein Bauernbub aus dem Weiler Ennetbühl im voralpinen Toggenburg, Kanton St. Gallen, Ostschweiz. Wenn er ins Dorf auf den Bolzplatz kam und bei unserem wilden Fussball mitmachte, sorgte er zuerst für Heiterkeit, denn er war staksig, ungelenk, technisch sackschwach. Doch hatte er jede Menge Muskeln, und er war furchtlos. Wendel schoss aufs Tor, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, oft genug mit der Spitze („Spitzguuge“). Und er ging keinem Zweikampf aus dem Weg, grätschte, wenn möglich auch von hinten. So fürchteten wir Dorfkinder Wendels Härte, respektierten aber auch dessen kompromisslosen Einsatz.

Bauernkinder fuhren in der Regel sehr gut Ski und waren begabte Schützen, Schwinger und Turner. Das Fussballspielen war nicht so sehr ihre Sache, zumindest auf den ersten Blick nicht. Hatte sich aber ein Dorfclub einen gewissen Namen verdient, so zog er auch Bauernbuben an, welche die Ehre des Vereins und des Dorfs verbissen verteidigten. Oft behalfen sich die „Landtschumpel“ (=in etwa „Landidioten“) mit dreckigen Fouls, wenn sie zu langsam für den davoneilenden Dribbler waren. In den 1980er Jahren brauchte es viel mehr als heute, bis ein Spieler endlich verwarnt wurde. Auch Verletzungen wurden damals weit eher in Kauf genommen.

Besonders berüchtigte Landvereine waren in meiner aktiven Zeit der FC Appenzell und der FC Einsiedeln im Kanton Schwyz. Die Appenzeller Verteidiger assen vor dem Match sogar Knoblauch, um aus dem Mund zu stinken und somit ihre Gegenspieler abzuschrecken. Sie liessen manchen Stürmer über die Klinge springen und grätschten manchmal auf Kniehöhe. Man war dann froh, unverletzt aus dem Getümmel herausgekommen zu sein. Zu höheren Ehren hat es meines Wissens kaum je ein Appenzeller oder ein Einsiedler Fussballer gebracht. Zu hölzern waren sie, wohl auch zu brutal und zu unbeherrscht für eine obere Liga.

Ganz anders war dies im hochgebirgigen Oberwallis, von wo aus talentierte „Landtschumpel“ Karriere beim FC Sitten/Sion in der Nationalliga A machten. Einer von ihnen war Charly In-Albon, der als Verteidiger bei den Grasshoppers (GC) als berüchtigter Knochenbrecher galt, aber trotzdem viele Länderspiele für die Schweiz bestreiten durfte. Charly In-Albon war, offensiv wirkungslos, ein Liebling von Nationaltrainer Paul „Wolf“ Wolfisberg, der gerne hart und defensiv spielen liess. Vom FC Salgesch kam Stürmer Jean-Paul Brigger zum FC Sitten/Sion, später zu Servette Genf. Der rustikale Blondschopf köpfte als grossgewachsener Mittelstürmer viele Tore, war aber auch schussstark und zog sich wie sein Kollege In-Albon das Dress der „Nati“ über. Im Mailänder San Siro schoss Jean-Paul Brigger einmal ein Traumtor gegen Italien (Dropkick aus 20 Metern ins Lattenkreuz). Beim FC Sitten/Sion bildeten die deutschsprachigen Oberwalliser einmal eine richtige Fraktion, eine verschworene Gemeinschaft. Sie hielten zusammen, sehr zum Gefallen ihrer zahlreichen Deutschschweizer Fans aus dem oberen Rhônetal. Man wollte es den eingebildeten Genfern, Bernern oder Zürchern schon zeigen.

Tatsächlich verhielten sich Grossstädter gerne arrogant gegenüber Landeiern. So mag ich mich an ein Spiel des soeben in die Nationalliga B abgestiegenen FC Zürich in der Zürcher Agglomeration gegen den kleinen FC Brüttisellen erinnern. Die Stadtzürcher Fans versammelten sich vor einer Tankstelle und tranken dort reichlich Bier: „Hurra, das ganze Dorf ist da“, höhnten sie, als sie die wenigen Fans des FC Brüttisellen erblickten. Nach dem Spiel waren sie etwas kleinlauter, denn der FCZ hatte sang- und klanglos mit 0-1 verloren.

Eine Arroganz gegenüber „Bauernlümmeln“ war nicht nur in der Schweiz feststellbar. Auch in ländlichen Gegenden Deutschlands, so in Bayern oder im Norden, entstanden ambitionierte, aber verachtete Dorfclubs, die gegen (klein-)städtische Rivalen reüssieren wollten. Ein Beispiel dafür liefert uns der Allgäuer Josef Friedrich Gebhart (geboren 1933) in seinen „Jugenderinnerungen“ mit dem FC Rupprechs.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Fussballbegeisterten ihrer Leidenschaft unvermittelt weiter nach, trotz Hunger und Inflation. Im kleinen Bauerndorf Rupprechts, der Heimat von Josef Friedrich Gebhart, gründeten Sportsfreunde im Jahre 1946 gar einen eigenen Verein. Ein Herr Röder sorgte für Kickschuhe und Lederbälle, damals sehr teure Sportutensilien: „An aktiven Spielern fehlte es nicht.“ Unter den Flüchtlingen aus dem Osten gab es echte Könner, so Gebhart. Der Sportplatz war eine gepachtete Viehweide. Die einheimischen Buben bewunderten die kickenden Erwachsenen und applaudierten bei jeder gelungenen Aktion. Der FC Rupprechs spielte vorerst in der untersten Liga, wusste aber einige talentierte Spieler in seinen Reihen, so dass es bald gegen Teams aus Bad Wurzach, Bad Waldsee, Kisslegg, Mochenwangen, Bergatreute, Vogt oder Seibranz ging.

Die Partien gegen Seibranz waren besonders umstritten und heiss umkämpft. Seibranz war aufgrund seiner Höhenlage ein eigentliches Schneeloch, was Grund zum ausgiebigen Spott gab. Bei den städtischen Vereinen waren die Rupprechtser als „Bauernspitz-Kicker“ verschrien. Tatsächlich wusste ein Spieler wie „Wirts-Sepp“ vor allem durch Kampfgeist und Einsatz zu überzeugen. Technisch hatte der Läufer nicht viel drauf, war aber ein gefürchteter Kämpfer, der voll auf die Knochen ging. Die Städter nannten ihn abschätzig bloss den „dollohrigen Bauernlackel“.

Die einheimischen Buben wiederum hatten Gesprächsstoff und diskutierten die ganze Woche lang über das Gesehene – bis zum nächsten Spiel.

 


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